Die Siegessäule ragt weit über Berlins Straßen. Unsere Berlin-Expertin Ariane hat sie bei einem Spaziergang besucht und füttert uns hier mit Informationen und einem herrlichen Blick von der „Goldelse“
Nach einem abwechslungsreichen Spaziergang durch den Großen Tiergarten landen wir schließlich am Großen Stern. Vier bzw. fünf dicke Verkehrsadern münden hier in einen mehrspurig rauschenden Verkehrskreisel – zwei davon sind Teilstücke der Straße des 17. Juni, die hierfür unterbrochen wurde. Auf dem mit Rasen umgrünten Mittelplatz steht, scheinbar unbeeindruckt vom Getöse um sie herum, die Siegessäule. Ganz oben, direkt über der rund 50 Meter hoch gelegenen Aussichtsplattform, breitet eine mit echtem Gold überzogene Viktoria, auch „Goldelse“ genannt, in flatterndem Gewand ihre wuchtigen Flügel aus. Da wollen wir hin.
Die Siegessäule stand nicht immer hier. Auch ihre heutige Gesamthöhe von 69 Metern hatte sie nicht von Anfang an. Errichtet wurde sie im Auftrag Kaiser Wilhelms I. von 1864 bis 1873 auf dem damaligen Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik, als Nationaldenkmal der so genannten Einigungskriege. Unter Hitler dann, dessen Phantasien von einer „Welthauptstadt Germania“ just an dieser Stelle eine gewaltige Nord-Süd-Magistrale vorsahen, musste die Siegessäule 1938 umziehen, an ihren heutigen Standort. Im selben Atemzug wurde die ursprünglich
aus drei Sandstein-Trommeln bestehende Säule um eine vierte Trommel verlängert. In den Kannelierungen der unteren drei sind insgesamt 60 in den drei Kriegen erbeutete, vergoldete Kanonenrohre eingelassen.
Um zu ihr auf die Insel zu gelangen, müssen wir zunächst den Auto-Kreisel überwinden. Dazu geht es erst einmal unter die Erde. Vier Torhäuser verschaffen aus vier Himmelsrichtungen Zugang zu den Fußgängertunneln. Alle vier wurden Anfang der 1940er Jahre errichtet, im neoklassizistischen Stil jener Zeit. Da wir vom Spreeweg kommen, nehmen wir „Haus B“. Wir steigen ab, durch den Tunnel und wieder auf und stehen jetzt auf dem Mittelplatz, inmitten des Berliner Nachmittagsverkehrs, der in einigem Abstand um uns herum rotiert. Ein Mann sitzt auf den Stufen zu Füßen des Denkmals und blickt über den Rasen hinweg die Straße des 17. Juni entlang. Auf den Knien hat er ein Laptop aufgeklappt. Die Autos, die Häuser, der Lärm, die Stadt… das alles ist zwar da, umgibt uns hörbar und sichtbar, wirkt aber hier, auf der Denkmal-Insel, seltsam fern und unbedeutend, fast schon unwirklich. So als hätten wir mit unserem Unter-der-Straße-durch-Tauchen eine andere Welt betreten.
Eine andere Zeit wenigstens wird hier, auf dem Mittelplatz des Großen Sterns, tatsächlich präsent. Eingelassen in den mit poliertem rotem Granit verkleideten Sockel sind vier Bronzereliefs mit Schlachtenszenen aus den Einigungskriegen zwischen 1864 und 1871, aus denen schließlich das „Deutsche Reich“ hervorging. Der Anlass für die Errichtung der Siegessäule war der Sieg Preußens über Dänemark im Jahr 1864. In den folgenden sechs Jahren gewann Preußen zwei weitere Kriege: den Deutschen Krieg 1866 gegen Österreich und den Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871. Die Berliner Siegessäule ist damit unfreiwillig zum ersten Nationaldenkmal Deutschlands geworden, denn ein „Deutsches Reich“ gab es bei Baubeginn noch nicht. Am 2. September 1873, dem so genannten „Sedantag“, damals offizieller Feiertag zum Gedenken des Siegs über Frankreich in der Schlacht bei Sedan, wurde die Siegessäule eingeweiht.
Durch eine Tür im Sockel betreten wir das Denkmal. Im Eintrittspreis von drei Euro enthalten ist der Besuch der Dauerausstellung zur Geschichte des Ortes, die sich im Sockel befindet. Nachdem wir der Ausstellung kurz unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben – wer genug Zeit und historisches Interesse hat, wird von den Schaubildern, Texttafeln, Abbildungen und Miniatur-Denkmälern begeistert sein – beginnen wir mit dem Aufstieg.
Dass die Siegessäule immer noch steht, ist neben diversen Renovierungsarbeiten auch jenen Alliierten zu verdanken, die am Ende des Zweiten Weltkriegs dem Drängen Frankreichs, das ungeliebte Denkmal zu sprengen, nicht zustimmten. Und auch der versuchte Sprengstoffanschlag im Januar 1991 ging für die Goldelse glimpflich aus. Als der an der Aussichtsplattform montierte Sprengsatz explodierte, wurde lediglich ein Stützpfeiler leicht beschädigt, weil die Bombe nicht vollständig gezündet hatte. Da sich zum Explosionszeitpunkt niemand auf der Aussichtsplattform befand, gab es glücklicherweise keine Verletzten. Ab 1996 wurde die Siegessäule dann mit Liebe überhäuft: Massen von tanzenden Technojüngern waberten zu Loveparade-Zeiten einmal jährlich zum Großen Stern, um bei der Abschlusskundgebung die Worte von Dr. Motte zu empfangen, dem Gründer der legendären Loveparade. Inzwischen wählen auch Politiker diesen Ort gerne für ihre Reden – wie etwa 2008 der damalige US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama.
Nach ein paar Umdrehungen landen wir in der offenen Säulenhalle, direkt über dem Sockel. An deren Wand verläuft rundherum ein buntes Glasmosaik, das die Reichseinigung als Folge des Sieges über Frankreich bildlich darstellt. Die grau-
blaue, mit Gold verzierte Kassettendecke, die auf den Säulen ruht, erinnert an die Deckengestaltung, wie man sie von römischen Basilikas kennt.
Wir treten wieder ins Treppenhaus und drehen uns weiter hinauf, nach oben, in Richtung Goldelse. Die insgesamt 285 Stufen sind auch für Leute mit wenig körperlicher Kondition gut zu schaffen. Wer will, kann auf einem der Holzsitze, die in regelmäßigen Abständen ins Treppengeländer eingelassen sind, eine Verschnaufpause einlegen.
Die letzte Stufe ist erreicht. Ein Mädchen mit flatterndem Haar hält die Tür auf und schaut nach unten ins Turminnere, um zu sehen, wo ihre Freundin bleibt, die noch irgendwo im Gewinde der Wendeltreppe stecken muss. Wir schlupfen an ihr vorbei nach draußen.
Für heute haben wir das Ziel erreicht. Als kleine temporäre Schicksalsgemeinschaft hier oben genießen wir in stiller Eintracht die Sonne, den Wind, die Aussicht über die kleine große Stadt… und nicht zuletzt die ungewohnte Nähe zur berühmten Goldelse, die überdimensional über unseren Köpfen glänzt, als sei sie soeben erst renoviert worden. Dabei liegt ihre letzte Neuvergoldung schon viereinhalb Jahre zurück. Ob sie regelmäßig poliert wird?
Die von dem Bildhauer Friedrich Drake 1870 geschaffene Bronzefigur steht in jahrhundertealter Viktoria-Tradition, die bei der gleichnamigen Siegesgöttin aus der römischen Mythologie ihren Ursprung hat. In Berlin tauchen Viktorias erst nach den Befreiungskriegen (1813 bis 1815) auf. Den Anfang machte die geflügelte Frauenfigur, die auf dem Brandenburger Tor den Triumphwagen lenkt. Ursprünglich als Göttin des Friedens geschaffen, hatte man sie 1814 dem Geist jener Zeit entsprechend zur Viktoria umfunktioniert, indem man ihr ein Siegeszeichen mit Eisernem Kreuz in die Hand drückte. Weitere Viktorien wurden angefertigt und in der ganzen Stadt platziert. Einige stehen noch heute, so zum Beispiel auf dem Mehringplatz am Halleschen Tor, im Charlottenburger Schlosspark und auf der Schlossbrücke zwischen Zeughaus und Lustgarten. Friedrich Drake schuf schließlich die größte aller Berliner Viktorien – die Viktoria auf der Siegessäule. Die Figur trägt deutlich die Züge Victorias von Großbritannien und Irland, die damals Kronprinzessin in Preußen war und später Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin werden sollte.
Da stehen wir nun, direkt unter ihrem Rock. Barfuß hält sie sich auf der Säule in Balance, ein Bein leicht zurückgestellt, hält mit der rechten Hand einen kleinen Lorbeerkranz in die Luft und drückt mit der linken das Feldzeichen mit Eisernem Kreuz an sich. Ihr Haupt wird von einem adlergeschmückten Helm gekrönt, die mächtigen Flügel scheinen jederzeit zum Abflug bereit … Siegesgöttin oder Friedensengel – ja was denn nun? Diese Frage darf sich heutzutage jeder selbst beantworten. Er kann auch die Goldelse fragen.
Wer die Siegessäule mit der Berliner Stadtrundfahrt erreichen will, kann dank Hop-On-Hop-Off-Fahrt durch Berlin direkt an der Haltestelle „Siegessäule“ aussteigen und den historischen Aussichtspunkt zu Fuß erklimmen.
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